Novaheal – Mit einer Lern-App gegen den Pflegenotstand
Samuel Bongartz’ Impfung ist erst ein paar Stunden her, aber das Interview nicht weniger energisch oder politisch. Für ihn und seine Mitgründer geht es um eine attraktivere, zeitgemäße Ausbildung in der Pflege. Denn der Frust der Auszubildenden führt bundesweit zu einer viel zu hohen Abbruchquote. Den MVP ihrer App testen sie schon an 1500 Azubis. Eine aktuelle Herausforderung: Der Aufbau einer Redaktion.
Hallo Samuel, da du bereits eine Impfung bekommen hast, aber nicht wie 80 aussiehst, musst du systemrelevant sein. In welchem Beruf bist du tätig?
Ich bin gelernter Gesundheits- und Krankenpfleger und arbeite aktuell noch Teilzeit im Krankenhaus zum Blut abnehmen und Abstriche machen. Ich bin aber auch einer von drei Gründern der Pflege-Lernplattform Novaheal. In Zukunft würden wir gerne unsere ganze Zeit in Novaheal stecken. Darum haben wir uns Anfang des Jahres für das Fellowship des Journalismus Lab beworben und freuen uns sehr, dass wir im Batch #4 dabei sein können.
Um was geht es bei Novaheal?
Novaheal ist eine Online-Lernplattform für Pflege-Azubis. Mit weit über eine Millionen Beschäftigten in der Pflege ist das die größte Gruppe im Gesundheitswesen. Unser Ziel ist es mit Praxisnähe und Gamification die Ausbildung dieser Berufsgruppe und damit das Gesundheitssystem zu verbessern. Das ist uns ein echtes Anliegen. Wir wollen ein politisches Statement setzen, denn wir glauben daran, dass es möglich ist, die Pflege-Situation in Deutschland zu verbessern. Dafür sind wir auch schon auf die Straße demonstrieren gegangen. Mit unserem Startup Novaheal wollen wir dieses Engagement produktiv in die Tat umsetzen.
Woher kommt die Motivation, sich so sehr für die Pflege einzusetzen?
Die Situation, die Valentin und ich während unserer Ausbildung erlebt haben. Bei mir sind zwei Overhead-Projektoren im Unterricht abgefackelt. Insgesamt gab es wenig digitale Möglichkeiten und man hat sich eher gefragt, ob man noch Krankheitstage zur Verfügung hat, um sich diesen langweiligen Unterricht sparen zu können.
Was auf ganz vielen Ebenen eine große Unzufriedenheit erzeugt hat, ist die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Aufgrund des strukturellen Problems, dass zu viele Pflegekräfte fehlen, wirst du als Azubi schnell Vollzeit eingesetzt und innerhalb kürzester Zeit mit Inhalten konfrontiert, die du aus der Schule noch nicht kennst. Du begegnest moralisch-ethischen Konflikten, mit denen man mehr oder weniger allein gelassen wird. Das führt zu Frust und einer bundesweit viel zu hohen Abbruchquote.
Während Valentin sich nach der Ausbildung erst mal an einen ersten Businessplan für Novaheal gesetzt hat, mit dem er bei einem Bussinessplanwettbewerb den zweiten Platz gewonnen hat, hatte ich die Nase von der Pflege so voll, dass ich erst mal für ein paar Monate nach Nicaragua gegangen bin und eine Ausbildung zum Surflehrer gemacht habe.
Warum bist du nicht in Nicaragua geblieben? Klingt nach einem Traumjob.
Ich war einige Monate in Nicaragua. Zurück in Deutschland habe ich noch zwei Jahre in Köln und Münster auf der Intensivstation gearbeitet und dann ein Medizin-Studium angefangen, bei dem ich Valentin kennengelernt habe. Während einer Wanderung haben wir uns über die Idee zu Novaheal ausgetauscht und ab da jede Woche getroffen, um weiter an der Idee zu arbeiten. Als wir im Sommer 2020 unser Physikum hatten, haben wir dann beschlossen voll und ganz und mit Herzblut die Ausbildung besser zu machen. Wir haben dann noch Turan, einen alten Abi-Freund dazu geholt, der gerade seinen Master in International Management gemacht hat. Er hat während seines Auslandssemesters auf Bali surfen gelernt. Er kümmert sich um die Strategie, Valentin um die Produktentwicklung und ich mich um Kooperationen, das Team und die Redaktion.
Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf Novaheal?
Also als wir 2019 bei den ersten Pflegeschulen angeklopft haben und gefragt haben, ob sie nicht Lust haben mit ihren Azubis unsere App zu testen, war die Antwort in etwa „Ja, Okay, könnt ihr uns ja mal faxen.“ Grundsätzlich muss man sagen, dass die Pandemie sich schon als Treiber gezeigt hat. Allerdings ist es aktuell nicht so einfach etwas an die Krankenhäuser zu verkaufen. Dazu muss man wissen, viele Pflegeschulen sind an Krankenhäuser angebunden und die haben aktuell durch ausgefallene OPs große Verluste gemacht.
Wie sieht denn eure Zielgruppe genau aus?
Die Zielgruppe, denen wir die App verkaufen möchten, sind die Krankenpflegeschulen, von denen es deutschlandweit 1.500 gibt. Die befinden sich meist in Trägerschaften, zum Beispiel der Uni- und städtischen Kliniken aber auch in Trägerschaften wie Caritas, Franziskaner oder privaten Trägern wie Asklepios. Die Ausbildung dauert drei Jahre und die Generalistik wurde letztes Jahr reformiert, weswegen die Berufsbezeichnung jetzt offiziell Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann heißt. Mit der neuen Generalistik können wir die Schulen strukturiert ansprechen.
Wie genau wollt ihr die Ausbildung verbessern?
Wir stellen uns eine App vor, die durch Praxisnähe und Gamification die Schwächen der Ausbildung kompensiert. Praxisnähe ist deswegen wichtig, da man ziemlich kalt nach der Theoriephase in die Praxis geworfen wird und da sind Tipps Gold wert. Sie sollen als Kontrast zum sterilen Lehrbuch dienen, in dem oft Sachen stehen, die zwar wichtig sind, die man aber nicht umsetzen kann. Besonders dann, wenn man im zweiten Lehrjahr fünf Zimmer alleine bekommt, um die man sich kümmern soll.
Mit Gamification haben wir eine Methode, mit der Lernen Bock machen kann. Wenn man die Inhalte spielerisch aufbereitet, zum Beispiel mit verschiedenen Abfrageformaten, dann lernt man schneller und besser. Dieser Ansatz unterscheidet uns damit auch deutlich von der Konkurrenz, die eher klassisch an den Stoff geht.
In welchem Status befindet sich eure App und wie holt ihr euch Feedback für den Entwicklungsprozess rein?
Aktuell haben wir einen MVP, in dem sich erste Inhalte befinden und den wir bei ungefähr 1.500 Azubis an unseren Partnerschulen laufen haben. Unsere Hauptuser sind zwischen 18 und 21 Jahre alt, wobei wir auch verschiedene Quereinsteiger haben. Die geben uns Feedback zu den Inhalten, wie schnell oder langsam der Stoff vermittelt wird, ob wir zu tief, zu langweilig, zu realitätsfern sind. Aber auch Feedback zur UX, denn wir wollen die App nicht aus dem Elfenbeinturm heraus bauen. Wir hatten uns am Anfang zum Beispiel für viel dunklere Farben entschieden. Mittlerweile sind wir bei einem schönen Pflege-Grün angekommen.
Wie habt ihr die App technisch entwickelt und was plant ihr in Zukunft?
Am Anfang haben wir erst selbst versucht eine App zu bauen. Letztendlich haben wir uns für den MVP für eine Lern-Management-Lösung entschieden. Damit lässt sich schnell testen, ob das, was wir vorhaben, auch funktioniert. Die meisten Features lassen sich so umsetzen und wir können damit an Schulen gehen und verkaufen. In Zukunft wollen wir aber die Learnings, die wir dann gesammelt haben, mit einem eigenen inhouse Team umsetzen. Dafür brauchen wir dann aber eine Finanzierung.
Was ist der nächste große Milestone, den ihr erreichen wollt?
Unsere größte Baustelle, bei der wir aktuell Unterstützung brauchen, ist der Aufbau einer Redaktion. Mit Sophia, einer Pflege-Wissenschaftlerin, haben wir bereits Verstärkung in der Redaktion bekommen. Wir erhoffen uns durch das Fellowship beim Journalismus Lab auch viel Input wie man eine Redaktion weiter aufbaut. Wir sind bereits gut vernetzt mit Lehrerinnen und Lehrern in Pflegeschulen, die uns Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt haben und die uns bei der Qualitätssicherung helfen. Wir freuen uns aber auch über Vorschläge aus der Community. Denn nur gemeinsam können wir die Pflege-Situation in Deutschland verbessern.