Handbuch Digitale Verifikation für den redaktionellen Alltag
Guter Journalismus ist unabhängig, transparent, facettenreich und vielfältig. Und er ist der Sauerstoff unserer Demokratie. Zugleich stehen Journalistinnen und Journalisten heute oft unter Druck, müssen in krisenreichen Zeiten schnell reagieren – und das alles in einem rasanten digitalen Umfeld. Da hilft es, wenn man die nötigen und nützlichen Tools schnell zur Hand hat, mit denen Falschinformationen und Desinformation im journalistischen Alltag erkannt werden können.
Für die Stärkung einer vielfältigen Journalismus- und Medienlandschaft in Nordrhein-Westfalen setzen wir uns bereits seit Jahren ein. Das Handbuch ist ein weiteres Angebot in diesem Sinne: Es bietet praxisnahe Hilfe an. Das Handbuch steht hier zum Download bereit.
Zu Beginn des Handbuchs werden die zehn goldenen Regeln der digitalen Verifikation beschrieben.
1. Verifikation ist Teamarbeit.
Vier Augen sehen mehr als zwei, zwei Köpfe haben mehr Erfahrungswissen als einer und zwei Computer erhalten unterschiedliche Rechercheergebnisse. Was banal klingen mag, hätte sicher manchen Reinfall der vergangenen Jahre verhindert. Entscheidend ist, bei der gemeinsamen Recherche offene – und nicht geschlossene – Fragen zu stellen: Wie verstehst du diesen Satz? Welche Farbe hat dieses Auto? Was steht auf diesem Schild? Fällt dir etwas an dem Account auf?
2. Sei dein eigener Advocatus Diaboli.
Verifikation ist, wie gesagt, Teamarbeit. Aber manchmal ist einfach keine zweite Person zur Hand. Da hilft es, sich selbst zu hinterfragen: Wo könnte ich einen Fehler gemacht haben? Könnte ich meine Erkenntnisse auch so kombinieren, dass ich zum gegenteiligen Ergebnis komme? Wenn ja: Anlauf nehmen und weiter recherchieren.
3. Archivieren, archivieren, archivieren!
Online-Inhalte haben eine geringe Halbwertzeit. Was jetzt noch an Skandalträchtigem online steht, kann schon in wenigen Minuten gelöscht sein. Sobald etwas Relevantes auf dem Bildschirm erscheint: archivieren! Das schützt vor Rechtsstreitigkeiten, stopft Gedächtnislücken und die Links sind ein Service für Leserinnen und Leser.
4.Jeder und jede kann mit einer Behauptungrecht oder unrecht haben.
Natürlich verbreiten manche Menschen und Institutionen häufiger die Unwahrheit als andere. Trotzdem sollte man im Grundsatz jede Behauptung, jedes Video, jeden Account ohne Ansehen der Person oder der Institution prüfen.
5. Zu schön, um wahr zu sein heißt oft tatsächlich: zu schön, um wahr zu sein.
Besonders gefährlich sind Zeiten, in denen alle auf eine Nachricht warten und ein unbekannter Account genau diese verbreitet. Unvergessen, als die Große Koalition 2018 auf der Kippe stand und ein Account namens „hr Tagesgeschehen“ exklusiv die Nachricht brachte, das Unionsbündnis aus CDU und CSU falle auseinander. Ein folgenschwerer Fake aus der Titanic-Redaktion.
6. If in doubt, leave it out.
Mit den besten Exklusivgeschichten kann man nicht so viel gewinnen, wie man mit einem peinlichen Reinfall verlieren kann. Wenn also begründbare Restzweifel bestehen: Finger weg! Lieber als einziges Medium etwas nicht haben, als als einziges einem Irrtum zu erliegen.
7. Überschätze nicht deine Fähigkeiten.
So verheißungsvoll die technischen Möglichkeiten auch sind, sie bergen ihre Tücken. Der Technikrausch hat schon zu manchem „Heureka“ geführt, das keines war.
Wer etwas neu gelernt hat, neigt dazu, die erlernte Fähigkeit zu überschätzen – weil man die Fallstricke noch nicht kennt.
8. Pause machen, bevor das Gehirn Pause macht.
Diese Warnung gilt nicht nur für das Handwerkliche. Abbildungen menschlichen Leids zu verifizieren ist auch eine emotionale Herausforderung. Die eigenen Grenzen zu beachten, liegt in unser aller Verantwortung, aber auch in der unseres Medienunternehmens. Was etwa bei Videos hilft: In Zeitlupe schauen, Lautstärke runterregeln oder Ton ausschalten, Verstörendes mit der
Hand abdecken.
9. Geduld haben, URL anschauen, Browser wechseln.
Wenn nichts zu funktionieren scheint: Ruhe bewahren. Es könnte am Browser liegen, an einer nicht ganz korrekten URL, an einem schlechten Tag des jeweiligen Online-Tools. Da geht es den besten Programmen wie den Menschen: Zehn Minuten Pause machen oft den Unterschied.
10. Tools sind hilfreich – mehr aber auch nicht.
Die digitalen Helfer, die wir in diesem Handbuch zeigen, kommen und gehen. Manche funktionieren jahrelang, andere nur einige Monate. Das wichtigste Werkzeug bleibt das zwischen unseren Ohren. Denn was wir finden, sind oft Indizien, keine Beweise. Die Letztentscheidung, was wir als echt bestätigen und was nicht, welchen Quellen wir vertrauen und welchen nicht, bleibt eine journalistische.
In weiteren acht Kapiteln werden zusätzliche wichtige Tools und Techniken visuell aufbereitet und anschaulich und praxisnah erläutert. Das Handbuch umfasst Informationen zur Foto-Rückwärtssuche, zu Internet-Archiven und Browser-Caches, zu intelligenter Suche, Account- und Website-Verifikation, Geolokalisierung, Video-Verifikation und Deepfakes. Außerdem gibt es Tipps für den Ernstfall und die Verifikation in Breaking-News-Lagen. Und es werden weit verbreitete Arten von Fakes ebenso beleuchtet wie Methoden, mit denen man sie entlarven kann. Das Ganze wird ergänzt durch passende Beispiele aus der redaktionellen Praxis der dpa-Faktencheck-Redaktion und es wird aufgezeigt, wie die vorgestellten Techniken in den Alltag eingebunden werden.