Radikales Zuhören fürs Lokalradio: Die Dialogbox
Warum tactile.news mit Radio Euskirchen einen Sessel in die Fußgängerzone geschoben hat, der mit Menschen ins Gespräch kommt und wie das den Journalismus besser machen könnte.
Martin Tege von tactile.news gibt Einblicke in das Projekt Dialogbox, das wir im Rahmen des Programms Audio Innovation unterstützen konnten.
Die Dialogbox: ein journalistisches Möbelstück, das auf dem Marktplatz stehen und richtig gut zuhören kann. Das war unser Wunsch, als wir die Idee zur Dialogbox hatten. Bequem sollte sie werden. Und auf Rollen unterwegs sein. Damit sie schnell dorthin kann, wo sie hin soll: zu den Menschen. Etliche Post-its, hunderte User*innen-Tests und viele Gesprächsminuten später haben wir genau das erreicht.
Interaktion mit den Hörer*innen gehört zur DNA von Lokalradios. Doch die Ohrenzahl ist begrenzt, viele Freie stemmen den Betrieb. Hinzu kommt, dass sich die Hörgewohnheiten der Menschen verändern. „Es gibt heute viele Haushalte, da steht gar kein Radio mehr, sondern eine Alexa“, sagt Norbert Jeub, Chefredakteur von Radio Euskirchen. Das Programm des kleinsten Lokalradios aus NRW gibt es schon dort zu hören. Wer den Sprachbefehl „Alexa, starte Radio Euskirchen“ sagt, bekommt Musik und Nachrichten rund um die Uhr.
Sprachassistenten sind richtig gute Gesprächspartner
Sprachassistenten wie Amazons Alexa können längst mehr, als nur Inhalte wiederzugeben. Sie sind richtig gute Gesprächspartner*innen. Nur: Kaum ein journalistisches Medium nutzt sie auch so. Mit der Dialogbox wollten wir da ansetzen: Wie können Smart Assistants die zentrale Funktion von Radiosendern stärken? Also nah an den Menschen sein, mit ihnen ins Gespräch kommen, informieren und zuhören zugleich?
Zu Beginn stand ein Design-Sprint auf unserer Dachterrasse an. Das Team aus drei Audio-Journalist*innen, zwei Developern und uns Ideengeber*innen tüftelte an grundlegenden Fragen: Welche Gespräche könnten sich zwischen Box und Mensch entwickeln? Wie lassen sich Passant*innen anlocken? Wir entwickelten innerhalb von drei Tagen erste Dialoge. Auf Post-its landeten sie an der Wand. Die Journeys der potentiellen User*innen klebten wir mit Tape auf den Tisch. Zwischen Kaffeetassen und Mate-Flaschen rollte die Dialogbox als Lego-Modell herum.
5.517 Vornamen musste die Box lernen, ebenso 205 Hobbys, 37 Verkehrsmittel, 81 Lieblingsgerichte
Bei der Hardware stand schnell fest, was gut funktioniert: Wir verbauten im Prototypen einen Alexa Echo Dot. Unser Möbelstück ist ein Konferenzmöbel von der Stange, das durch einen speziellen Stoff outdoor-fähig wird. Die Dialogbox ist auf Rollen unterwegs, damit sie schnell für die Aktion auf dem Marktplatz, vor dem Supermarkt oder dem Rathaus gerüstet ist. Sie sieht aus wie eine futuristische Telefonzelle. Eine leistungsfähige Batterie und ein LTE-Router machen sie autonom einsetzbar. An der Seite soll ihre Mission hängen: „Willkommen im kleinsten Außenstudio Deutschlands.“
Drei Monate arbeiteten die Geburtshelfer*innen der Box daran, dass Dialoge flüssig laufen und das Gesagte seinen Weg in die Redaktion findet. Radio Euskirchen testete derweil fleißig und hilft mit Wissen aus dem Lokalen. Es war keine leichte Aufgabe, statt einer linearen Story nun Gesprächspfade mit unendlich möglichen Geschichten zu skripten. Unser Ziel für die Dialogbox: Sie soll interagieren können wie eine echte Reporterin. Und damit sie gut zuhören kann, muss sie viel lernen. Wie im echten Leben eben. In der Entwicklung haben wir die Box darauf trainiert, 5.517 Vornamen verstehen zu können, ebenso über 205 Hobbys, 37 Verkehrsmittel, 81 Lieblingsgerichte und manchen rheinischen Ausspruch, denn ihr erster Einsatz führte sie ins Rheinland nach Euskirchen und Bad Münstereifel.
Der Morning-Show-Moderator unterstützt Alexa
Die Themen, die wir gemeinsam mit der Redaktion von Radio Euskirchen gesetzt haben, lauteten: Familien-Rituale, Freizeit-Tipps, autofreie Innenstadt. Darüber hinaus brachte die Dialogbox eine “Frage des Tages” mit. In der Box steckte wie in vielen guten Radioshows eine Doppelmoderation: Alexa führte gemeinsam mit Markus “Steini” Steinacker durch den Dialog, der die Morning Show moderiert. Was die Menschen der Dialogbox sagen, wird als Audiodatei gespeichert und zugleich als Text in einer Cloud-Tabelle. So kann die Redaktion schnell und jederzeit darauf zugreifen und entscheiden, was sie mit ins Programm aufnehmen möchte.
Eine unserer Tester*innen war Katharina, Mitte 30, Tupperdose und Kaffeebecher im Anschlag. Sie treffen wir in der KfZ-Zulassungsstelle im Kreishaus Euskirchen. Katharina berichtet von ihrer Familie und wie stressig Kindererziehung sein kann. Ob sie einen Erziehungstipp hat? „Ein Nein muss sich lohnen.“ – „Finde ich gut, ist notiert“, sagt die Box. „Und ich habe auch einen Tipp für dich: Aus dem Kind kein Arschloch machen, klappt besser, wenn man selbst keines ist.“ Das hat die Box aus den vorbereiteten Daten vorgelesen. Katharina stutzt erst, dann lacht sie, bis ihr die Tränen laufen. Mit dem maschinellen Humor hat sie nicht gerechnet.
“Ich find’s witzig, mit einer Maschine zu sprechen”
Eine weitere Tester*innen war Enie. Sie braucht keine lange Einladung, um in der Box Platz zu nehmen. Wie viele junge Leute ist die 18-Jährige offen für das Gespräch mit einem Sprachassistenten. „Ich find’s witzig, mit einer Maschine zu reden, gerade weil sie mich nicht immer versteht. Da gibt’s auch mal was zu lachen.“ Welches Thema hätte sie gerne noch besprochen? „Es sollte viel mehr für die Jugend passieren hier. Das hätte ich der Box gerne noch gesagt.“
Bei ihrem ersten Einsatz nehmen mehr als 100 Menschen in der Box Platz. Junge und ältere, mit und ohne Migrationserfahrung, einige in der Stille des Kreishauses und andere mitten im Baulärm der Fußgängerzone. „Ich hätte nie gedacht, dass wirklich so viele mit dem Kasten sprechen“, sagt Norbert Jeub, Chefredakteur von Radio Euskirchen. In Summe habe die Dialogbox ein enorm facettenreiches Stimmungsbild aus dem Sendegebiet geliefert. Und viele neue Themen aufgeworfen: „Manche Leute haben mir gesagt, dass sie lieber mit einer Maschine sprechen als in ein Mikrofon. Das eröffnet uns als Radioredaktion Chancen, die noch ganz neu für uns sind.“
Mit der Dialogbox stellen sich Lokalredaktionen den Menschen in den Weg und sammeln ihre Stimmen zu relevanten Themen. Sie können den Draht zu ihren Hörer*innen wiederfinden, indem sie sich ihrer Grundaufgabe widmen: der Interaktion mit dem Publikum. Das Möbel, die Software und das Dialogformat haben wir im Zuge der Audio Innovation Förderung entwickelt, ungefähr vier Monate hat das gedauert. Nun möchten wir die Dialogbox gerne mit neuen Themen bestücken und an ganz verschiedene Orte in Deutschland rollen. Damit sie tut, was sie am besten kann: zuhören und mit Menschen ins Gespräch kommen. Wie eine echte Reporterin.
Das Projekt der Dialogbox war Teil des Programms Audio Innovation, mit dem das Journalismus Lab bestehende Unternehmen und Organisationen in Nordrhein-Westfalen bei der Umsetzung oder Weiterentwicklung von Vorhaben im Audiobereich unterstützt, die die journalistischen Rahmenbedingungen und den Audio-Sektor in NRW stärken.