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EGON: Wie eine App dezentral kollaborative Recherche ermöglichen könnte

Am Anfang steht Spontanität: ein kurzfristiger Trip nach Düsseldorf zum ersten IdeaSprint des Journalismus Lab. Ohne eine Idee im Gepäck, eigentlich mehr aus Neugier. Doch vor Ort fällt mir auf: Für den klassischen Redaktionsalltag ist nichts am Start. Und so kommt es, dass ich gemeinsam mit Johannes Meyer eine eigene Idee präsentiere: eine App für kollaborative Recherchen im Lokaljournalismus, mit der man Mitstreiter für eine größere Geschichte finden oder anderweitig zusammenarbeiten kann. 

Andrea Hansen und Johannes Meyer halten ihre Urkunde in der Hand.
Andrea Hansen und Johannes Meyer fanden 2018 beim Idea Sprint des Journalismus Lab zusammen.

Einerseits sind lokale Infos das, was viele am meisten interessiert. Andererseits sind gerade im Lokalen redaktionelle Einheiten unter Druck. Sparzwang, Stellenabbau, Redaktionsschließungen – wie können da überhaupt noch relevante Inhalte entstehen, wenn es immer weniger Leute vor Ort gibt bzw. diese immer weniger Zeit für ihre Themen haben?

Der deutsche Journalismus zerfällt in zwei Hälften – Flagschiffe, die überregional agieren, investigativ recherchieren und daraus große Geschichten machen, die Gesprächswert für das ganze Land bieten und Lokaljournalismus, der noch zu oft an Terminen und anderen Standards hängt und durch immer neue Sparprogramme schrumpft.

Dabei sollte es keinen Unterschied machen, ob man Rathaus oder Bundestag zum Thema hat – und Funktionen und Arbeitsweisen des Journalismus müssten in Provinz und Hauptstadt ähnlich sein. Zumindest, wenn Reporter*innen ihrer Rolle als „vierte Gewalt“ auch in Kleinstädten und nicht nur in den Metropolen gerecht werden wollen.

Zu wenig Recherche im Lokalen?

Doch im Lokalen sind investigative Beiträge viel seltener als bei überregionalen Medien zu finden, unter anderem, weil sie aufwändig und damit teuer sind. Es fehlen Zeit und Ruhe, manchmal auch Recherche-Skills. Wie kann sich das ändern? Durch die dezentrale Bündelung von Kräften, also die Kollaboration mit Kolleg*innen, die nicht am Schreibtisch gegenüber sitzen! Mit dieser Idee stehe ich also plötzlich vor den anderen Teilnehmern und gewinne spontan einen Mitstreiter. Und am Ende des Tages gewinnen wir zusammen eine von drei Auszeichnungen und geben dazu auch unser erstes Interview als Team.

Johannes Meyer ist auch Journalist und nun sind wir zusammen EGON: der Kollege, der fehlt. Wir machen uns auf die Suche nach Antworten und treffen uns mit Chefredakteuren im Lokalen, wir sprechen mit Kolleginnen und Kollegen, auch mit jenen, die ähnliche Ansätze verfolgen.

In den Gesprächen mit Chefredakteuren wird schnell klar: Was auch immer man Journalist*innen anbietet – es muss simpel sein. Leicht zu handeln, großer Nutzen, wenig Aufwand. Wir erfahren, dass es mancherorts zunächst ein anderes Selbstverständnis bräuchte, um tiefer recherchierte Geschichten anzugehen.

Die Zwänge des Redaktionsalltags

Das Angebot unserer App wäre also kein Selbstläufer – es bräuchte flankierende Maßnahmen wie Trainings oder Themenbörsen, um in die Denke reinzukommen, dass eine gute Zeitung nicht die ist, deren Seiten irgendwie voll geschrieben werden.

Das nehmen wir aus Gesprächen mit Lokalchefs mit: Wer täglich mit seinem Team etliche Seiten füllen muss, hat seltener Luft für den langen Atem. Wo die Personaldecke dünn ist, fällt es schwer, einen oder gar mehrere aus dem Team frei zu stellen, um an einer Geschichte dran zu bleiben, die eventuell erst Wochen oder Monate später im Blatt landet.

Außerdem lernen wir, dass es im ohnehin vollen Alltag eines Lokalreporters keine zweite Chance für den ersten Eindruck gibt – entweder beim Premiereneinsatz wird direkt alles leichter besser oder das war’s für unsere App. Neue Technik ist oft im Lokalen auch ein Schlüsselreiz für Abwehrmechanismen, weil sie nicht immer eingesetzt wird, um die Arbeit leichter zu machen, sondern um leichter mehr Arbeit mit weniger Leuten zu machen.

Negative Erfahrungen mit Tools und Technik stünden so auch einer an sich guten Idee im Weg. EGON müsste also ganz eindeutig auf der Seite der Redaktion stehen. Nur: Wer führt ihn dann in den Redaktionsalltag ein?

An der Leitung vorbei wird man kaum auf Diensthandys oder -laptops landen. Private Infrastruktur würden wohl nur Freie nutzen – aber erreicht man so eine kritische Masse, damit ein permanenter Anreiz da ist, die App zu nutzen? Kann die virtuelle Redaktion schnell genug ausreichend groß werden und bleiben? Oder braucht es Zusatzangebote wie Themenideen, sprich redaktionellen Inhalt, weil ohne solche Angebote schnell die Motivation nachließe, die App zu nutzen? Und falls die Einführung in den Redaktionsalltage nur mit Segen von oben passieren kann, damit auch die hausinterne IT keinen Ärger macht (hier schließt sich der Kreis): kommen dann nicht doch fix Vorbehalte hoch?

Das Titelbild von Frag Egon.

Wer Tools anbietet, muss Vertrauen schaffen

Und überhaupt, wenn EGON der Kollege ist, der fehlt – dann sind die, die sich beim ihm anmelden, die Kollegen, die man nicht kennt. Vertrauen ist aber ein großes Thema bei Recherchen – wenn man den anderen und seine Arbeitsweise (noch) nicht einschätzen kann, wie soll man an die Qualität seiner Rechercheergebnisse glauben? Warum soll man „seine große Sache“ dem unbekannten Dritten verraten.

Auch die nackte Datensicherheit ist ein Riesenthema. Sie muss zwingend auf höchstem Standard gewährleistet sein, weil via App ausgetauschte Informationen für Konkurrenten oder von der Recherche „Betroffene“ interessant sein könnten und der Quellenschutz auch technisch gewährleistet sein muss. Unser Fazit nach einer NRW-Rundreise in Sachen Recherche: Da kommen ganz schön viele Anforderungen an eine kleine App zusammen.

Doch nicht nur das: Wenn die App etwas bringen soll, braucht sie eine lebendige Community. Denn sie soll ja zum einen Journalist*innen- Profile bieten, aber auch Themenprofile, mit denen man Mitstreiter für die gemeinsame Sache finden kann. Werden Journalist*innen ihre Ideen bzw. Wissenslücken anderen offenbaren? Das ist die große Frage.

Denn nur dann lassen sich die Potenziale von EGON heben: Dass mehrere zusammen eine Geschichte größer machen, als diese im Alleingang hätte werden können. Dass die Urheber selbst von einer Mehrfachverwertung in verschiedenen Medien oder Verbreitungsgebieten profitieren können. Dass sich Rechercheergebnisse schlicht mehrfach nutzen lassen.

Austausch unter Mediengründer*innen

Das man zusammen zu besseren Arbeitsergebnissen kommt als allein, ist auch die Grundidee der hostwriter, einer Community, die bislang vor allem grenzüberschreitend denkt. Gestartet als Couchsurfing für Journalist*innen, bietet hostwriter heute die Möglichkeit für multinationale Recherchen. Deutsche und Medienmacher aus anderen Ländern sind Teil der Community und finden über hostwriter zu crossnationalen Recherchekollaborationen zusammen. Ob nur ein Experten-O-Ton zu einem Spezialthema oder aber die gemeinsame Arbeit an einem komplexen Thema – Hilfegesuche und -angebote alle Art sind möglich.

Beim Treffen in Berlin erzählt Initiatorin Tabea Gryszek mir offen, wo das Projekt derzeit steht und wie es dahin gekommen ist. Es habe viel Zeit gekostet, die ihr dann für eigene journalistische Arbeit gefehlt hat. Aber mittlerweile ist die Idee hinter hostwriter ein eigenes Spezialgebiet für Tabea. Für sie ist kollaboratives Arbeiten kein Tool, um ihre journalistischen Produkte etwas anzureichern oder nur nett zu pimpen. Es hat ihre Einstellung zur journalistischen Arbeit grundlegend neu geprägt und aus Überzeugung findet sie daher Kooperationen zwischen Projekten wünschenswert.

Niemand hindert die Deutschen unter den hostwritern, auch untereinander via EGON zu kollaborieren – das war bislang nur nicht der Ansatz. Hier könnte also was zusammen laufen. Nur: Dafür bräuchte es erst mal ein Produkt.

Hier steht unser Zufallsteam vor dem nächsten Problem: Diversität. Wir sind zwei freie Journalisten, eingebunden im Alltag. Für EGON zusammen gekommen sind wir, wie die Jungfrau zum Kind und nicht, weil wir dringend gemeinsam eine Firma gründen wollten. Wir waren halt zur selben Zeit am selben Ort. Aber ins Team bringen wir leider ähnliche Kompetenzen ein. Alle Fragen rund um Geschäftsmodell oder IT können wir uns so allein nur schwer beantworten.

Selbst mit punktueller Hilfe von außen durch einen Coach, bleibt der nächste Schritt der schwerste: Wie soll das Ganze konkreter werden? Neben Gründerkompetenz wäre auch ein dauerhafter Hosting-Dienstleiter wichtig, der uns als technischer Support permanent zur Verfügung stehen müsste, um Bugs schnell zu beseitigen bzw. das Produkt technisch auf dem jeweiligen Stand der Zeit zu halten.

Wir ahnen, dass so viele Projekte im Lokaljournalismus scheitern. Zu ähnliche Typen finden aus Leidensdruck oder Begeisterung für die Sache als Team zusammen und starten enthusiastisch nebenbei. Doch etwas völlig Neues braucht volle Konzentration, sonst rennt einem die Zeit davon. So entsteht das Gefühl, man trete auf der Stelle, weil man nebenbei nicht wirklich vorankommt.

Recherche als Geisteshaltung: eine Roadshow?

Die Analyse bleibt richtig, das zeigen auch Gespräche mit Kolleg*innen bei der Netzwerk Recherche-Jahrestagung in Hamburg: Wenn man Lokaljournalisten ertüchtigen und ermutigen will, sind Schwarmrecherchen wie sie Correctiv mit Redaktionen vornimmt, ein guter Ansatz, aber nicht das Allheilmittel. Wenn Lokaljournalismus (wieder) relevanter werden will, muss er eigenrecherchiertes Material und Aufreger vor Ort bieten, die Nutz- und Gesprächswert für die jeweilige Kommune haben. Dazu braucht es eine neue Geisteshaltung, die die Recherche auf ein anderes Alltagslevel hebt.

Eine Vernetzung im Lokalen und ein Aufbruch zu neuen Ufern wäre wünschenswert, und eine App, zu der sich Fortbildungen und Veranstaltungen speziell für investigative Reporter*innen im Lokalen gesellen, könnte ein Weg sein. Aber es bräuchte dafür einen technisch richtig guten Aufschlag und eine Auftaktveranstaltung, die möglichst viele erreicht, die sich von den üblichen Branchentreffen nicht angesprochen fühlen.

Da viele Lokalreporter*innen keine Zeit haben oder sie sich nicht nehmen, um für einen bis drei Tage zu einer Weiterbildung zu fahren, bräuchte es darüber hinaus wohl auch noch eine Roadshow. EGON, die App, müsste zu den Anwendern kommen – und nicht umgekehrt.

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